Erfahrungsberichte 2023

80 Prozent der Patienten sind weiblich

Ein Bericht von Peter Christen

Mein erstmaliger Einsatz dieses Jahr führte mich in den südwestlichen Teil des Landes in die Provinz Khatlon an der Grenze zu Afghanistan. Wir mussten zwar regelmässig Checkpoints passieren, aber Tadschikistan will rein gar nichts mit den Taliban zu tun haben und wir haben uns im Land selber auch immer sicher gefühlt – bis auf eine Ausnahme: im Strassenverkehr! Da hatte ich aufgrund der halsbrecherischen Fahrstile unserer Fahrer wirklich das eine oder andere Mal Todesangst. Der Strassenverkehr vor allem auf der Seidenstrasse war die grösste Gefahr in diesem Land. Den Islam als Religion haben wir als entspannt, geprägt von grosser Gastfreundschaft, und nie als aufdringlich oder penetrant erlebt. Aber nun zurück zum Beginn unseres Einsatzes…


Organisatorische Herausforderungen
Nachdem die „Hausärzte für Tadschikistan“ nicht mehr von offizieller Schweizer Seite durch die DEZA unterstützt werden, wurde die Organisation des Einsatzes aufwändiger. Zwar hatten wir vom Nationalen Gesundheitsministerium von Tadschikistan vor dem Einsatz die Bewilligungen für unsere Tätigkeiten erhalten, aber damit war dann auch schon Schluss mit Vorausplanung. Zum Glück begleiteten uns vier mit HfT vertraute Dolmetscherinnen, und eine von ihnen übernahm dann sehr kompetent die weiteren administrativen Schritte. Darüber waren wir sehr dankbar! Obwohl einige Behörden nicht wirklich begeistert waren von unserem Auftauchen und obwohl die Hausärztinnen und Hausärzte, die wir auf dem Land besuchen wollten, nicht vorinformiert waren, hat mit viel Improvisation doch alles irgendwie geklappt und wir konnten unsere Besuche starten!
 

In der Region Khatlon waren wir viermal je drei Tage lang in Hausarztpraxen tätig. Dass jede und jeder von uns Schweizer Ärzten und Ärztinnen jeweils eine eigene Dolmetscherin zur Seite hatte, war eine grossartige Hilfe. Die tadschikische Sprache kommt aus dem Farsi, also dem Persischen, sie wird aber aufgrund der Vergangenheit in der Sowjetunion in kyrillischen Buchstaben geschrieben. Ohne Einsatz der Übersetzerinnen wäre unsere Arbeit so nicht möglich gewesen.


In jedem neuen Einsatzort mussten wir uns dann zuerst dem lokalen Gesundheitsministerium vorstellen. Die Administration dauerte jeweils einen halben Tag. Und da die lokalen Hausärzte nicht vorinformiert gewesen waren, ging danach die fieberhafte Suche nach geeigneten Praxen los, die wir entweder noch am selben oder dann am nächsten Tag besuchen durften. Jedes Arzt/Dolmetscher-Paar kriegte dann eine Hausarztpraxis in der Peripherie des entsprechenden Distriktes zugeteilt, schwärmte aus, und abends trafen wir uns wieder alle im Hauptort des Distrikts. Die kleinen Dörfer lagen bis ungefähr eine halbe Stunde entfernt vom Zentrum.


Sehr viele Patienten sind…weiblich
Unseren abendlichen Austausch schätzte ich sehr. Es war uns wichtig, unsere Eindrücke und medizinischen Fälle besprechen zu können. Entsprechend den Bedürfnissen unserer lokalen Kolleginnen und Kollegen legten wir unsere Schwerpunkte auf Diabetes, Übergewicht und Hypertonie. Überraschend für uns war, dass wir zu ungefähr 80% weibliche Patienten antrafen. Die Mehrzahl der Männer aus Tadschikistan arbeiten in Russland als Gastarbeiter und verdienen dort das Geld, das sie zu den Familien nach Hause schicken. In Tadschikistan gibt es neben Landwirtschaft wenig Arbeitsplätze in Industrie und Dienstleistung. Die Verdienste (auch für Ärzte!) sind sehr gering. So bekamen wir in den Praxen fast nur weibliche Patientinnen zu Gesicht. Meistens war es dann nicht nur der Besuch einer Person, sondern die Frauen – oft Schwiegermütter - brachten ihre ganze Grossfamilie mit sich, die dann auch alle im Behandlungszimmer Platz nehmen und bei der Untersuchung dabei sein wollten. Mit etwas Überredungskunst konnten wir dann die Begleitung auf eine bis zwei Personen reduzieren. Das Patientengeheimnis bedeutet den Menschen dort offenbar nicht ganz so viel wie uns hierzulande…
 

Häufige Behandlungsgründe waren somit frauenspezifischen Themen wie Schwangerschaft, vor- oder nachgeburtliche Probleme und Eisenmangel und pädiatrische Untersuchungen. Auch zur Ernährung gab es viel zu diskutieren. In Tadschikistan ernähren sich die Menschen grundsätzlich ausreichend gesund, es gibt durch den Ackerbau genügend Getreide, Gemüse, Früchte und Hülsenfrüchte. Nahrungsergänzungsmittel wie Vitamintabletten oder Spurenelemente sind sehr hoch im Kurs. Sie gelten quasi als Allerheilmittel für oder gegen fast alles, und die Menschen würden am liebsten tonnenweise davon schlucken. Wir haben wertschätzend auf ihre gesunde Ernährung aus dem eigenen Garten hingewiesen und die Hausärzte motiviert, mit den Substitutionen etwas evidenzbasierter umzugehen. Wir durften an einem Qualitätszirkel von rund 25 Kollegen teilnehmen, bei dem das metabolische Syndrom und besonders dessen Behandlung in der Schwangerschaft im Vordergrund standen.


Einmal Paracetamol für alles und jeden
Ein weiteres grosses Thema neben dem Stoffwechsel war der Bewegungsapparat. Auf diesem Gebiet konnten wir wohl am meisten bewirken. Ich war dankbar, auf meine Ausbildung in manueller Medizin zurückgreifen zu können. Schon vor der Abreise war uns bewusst, dass die tadschikischen Hausärzte zu Themen des Bewegungsapparats nicht besonders gut ausgebildet werden. Unsere Teamleiterin hatte laminierte, tadschikisch-kyrillisch geschriebene Infoblätter zu Heim-Übungen für die Dehnung und Kräftigung des Rückens mitgebracht. Aus meiner Sicht war hier der Bedarf an Wissensvermittlung zur Untersuchungstechnik, Diagnostik und Therapie besonders gross. Die gemeinsam mit den lokalen Ärzten durchgeführten Untersuchungen waren denn auch ein Highlight für mich. Allerdings gab es zuerst eine grosse Hürde zu überwinden: Wie sollte ich bloss die verhüllten tadschikischen Frauen an Rücken und Gelenken untersuchen? Ich hätte nicht erwartet, dass mir mein Arzt-Kollege auf diese Überlegung ganz unkompliziert mitteilte, ich solle die Frauen doch einfach fragen! Und siehe da: In Anwesenheit anderer Frauen und mit der gebotenen Achtsamkeit meinerseits war die Untersuchung des Rückens und der Gelenke problemlos möglich. Sie waren sogar sehr glücklich und dankbar, dass sich ein Arzt einmal für ihre «Bresten» interessierte und sie «hands on» untersuchte! Die lokalen Ärzte waren darüber nicht schlecht erstaunt, und ziemlich schnell wurden Handys gezückt und Videos der Untersuchungstechniken gemacht. Wenn der Doktor kein Smartphone hatte, wurde halt einfach ein etwas wohlhabenderer Patient mit Handy angefragt.

Nach der Untersuchung stellten sich natürlich viele Fragen zur Therapie. In Tadschikistan ist Paracetamol das Allerweltsmittel für alles. Egal, was wie weh tut, es werden grosszügig Analgetika verschrieben. Bei unseren Untersuchungen des Bewegungsapparates haben wir zahlreiche Wachstumsstörungen, leider viele unbehandelte Unfallfolgen mit Fehlstellungen, osteoporotische Frakturen, nicht selten entzündliche rheumatische Erkrankungen und natürlich die ganze Palette der degenerativen Krankheiten gefunden. Diagnostisch vor Ort war nur die klinische Untersuchung möglich.


Die gemeinsam durchgeführten Sprechstunden waren auch in anderer Hinsicht eine Art „Augenöffner“, sozusagen eine vertrauensbildende Massnahme: Am ersten Tag waren viele Hausärzte, die wir besucht hatten, eher verunsichert oder gar misstrauisch uns gegenüber. Sie befürchteten eine staatliche Kontrolle mit Konsequenzen für ihre Berufsausübung. Nach Klärung, dass wir sie als Mentoren besuchten und mit wachsendem Vertrauen entspannten sich diese Situationen jedoch rasch.


Traumjob Hausarzt – in Tadschikistan eher nicht
Bei den Hausärzten hielten sich die männlichen und weiblichen Kolleginnen und Kollegen etwa die Waage. Wir sahen viele junge Ärztinnen, aber auch viele ältere Kollegen, die 70 Jahre und älter waren und immer noch praktizierten. Auch in Tadschikistan kennen sie das Problem, dass Ärzte abwandern. Die Arbeit ist alles andere als attraktiv: Ein Hausarzt verdient pro Monat ungefähr 150 Euro. Immerhin gibt es eine ärztliche Versorgung auch in ländlichen Gebieten, jedoch in einer viel weniger grossen Dichte als bei uns in Mitteleuropa. Trotz allem habe ich die von uns besuchten Ärztinnen und Ärzte als motiviert und sehr interessiert erlebt, Wissen aufzunehmen und weiterzugeben. Oft gingen sie nach der Sprechstunde noch einer zusätzlichen Arbeit nach, beispielsweise im familieneigenen kleinen Bauernbetrieb. Ich bewunderte ihren motivierten Einsatz, obwohl die Arbeitsumstände alles andere als optimal sind.


Ein sehr interessanter, aber auch eindrucksvoller Teil unseres Einsatzes waren die Hausbesuche. Wir trafen zahlreiche bettlägerige Patienten an, die an chronischen Krankheiten litten oder schon seit der Geburt schwere Behinderungen hatten. Diese Menschen wurden zuhause mithilfe der ganzen Familie gepflegt. Ich erinnere mich an eine 45-jährige Frau, die nach einer Enzephalitis seit sieben Monaten in einem Wachkoma lag. Sie war sauber gepflegt, hatte eine Magensonde für die Ernährung und einen Urinkatheter, was mich doch etwas überraschte. Auch in Tadschikistan gibt es eine Art Spitex, die Familienmitglieder in der Pflege instruiert. Wir wurden dann gefragt, was wir in diesem Fall noch zur Behandlung vorschlagen würden. Uns fiel auf, dass die Patientin unter muskulären Spasmen und beginnenden Kontrakturen litt. Zusätzlich zur muskel-relaxierenden Medikation schlugen wir vor, dass eine Physiotherapeutin – das gibt es! – der nächst gelegenen Distrikt-Hauptstadt die pflegenden Familienangehörigen instruiert und so einem Fortschreiten der Kontrakturen vorbeugen kann. Obwohl in diesem Fall keine Aussicht auf Besserung bestand, konnten wir so doch mittels Beratung und einer pragmatischen Vorgehensweise hoffentlich etwas Positives bewirken.


Medizin unter sehr schweren Bedingungen
Eindrücklich fand ich an diesem Einsatz auch, mit wie wenig Hilfsmitteln die Hausärztinnen und Hausärzte in Tadschikistan auskommen müssen. Ein Reflexhammer und ein Otoskop sind lange nicht in allen Praxen verfügbar, Labors ausgestattet mit Trockenchemie und serologischen Tests sowie Radiologie gibt es nur in den nächst grösseren Städten. Die Reise dorthin sowie entsprechende Untersuchungen müssen die Patienten selber bezahlen. Wohlhabendere Diabetes-Patienten kaufen sich ein Blutzucker-Messgerät in Russland, messen selber und dokumentieren mehr oder weniger zuverlässig die Messungen für den Hausarzt. Das ist Luxus, ansonsten müssen sich die Hausärzte auf ihre klinische Beurteilung verlassen. Leider funktioniert die Versorgung mit labordiagnostischen Geräten im Land sehr schlecht bis gar nicht. Geräte und Verbrauchsmaterial verschwinden im Laufe einer Versorgungskette und kommen nie in der Peripherie an. So kocht eine (oftmals gut ausgebildete) Laborantin in einer Hausarztpraxis in Tadschikistan den Urin über dem Bunsenbrenner auf und kontrolliert, ob Zucker ausfällt. Mit einem immerhin meistens vorhandenen Mikroskop kann sie auch das Urin-Sediment untersuchen, aber das war‘s dann auch schon an Hilfsmitteln.

Links: Blutdruck-Messgerät und Stethoskop sind die einzigen Hilfsmittel des Hausarztes.
Rechts: Ein Labor mit ausgebildeter Laborantin. Sie kann Urinsediment und Zucker mit der Aufkoch-Methode bestimmen, Blutuntersuchungen sind wegen fehlendem Verbrauchsmaterial nicht möglich.

 

Was ich selber medizinisch gelernt habe? Sehr viel! Zum Beispiel habe ich einiges mehr über Parasitosen erfahren. So kamen beispielsweise zahlreiche Kinder mit weissen Flecken im Gesicht in die Praxis. Ich konnte mir fast nicht vorstellen, dass sie alle an einer Vitiligo (Weissfleckenkrankheit) litten….die lokalen Ärzte haben mich dann fast ein wenig ausgelacht, als ich ihnen meine Überlegungen mitteilte und meinten: „Die Kinder haben doch Hautwürmer! Schau mal den restlichen Körper an, da gibt es überall Flecken. Die werden zuerst rot, dann braun und dann weiss. Diese Kinder musst du entwurmen!“ Was mich auch beeindruckte: Die Menschen in Tadschikistan nehmen die Bekämpfung der Tuberkulose sehr ernst. Erkrankte werden bei der Betreuung staatlich unterstützt, ihr Sputum wird täglich von offizieller Stelle gratis abgeholt und sorgfältig Kulturen angelegt.


Überwältigende Gastfreundschaft
An den Wochenenden hatten wir frei und machten Ausflüge ins nahe gelegene Gebirge oder in einen Nationalpark. Wir durften unglaublich herzliche Gastfreundschaft bei lokalen Anwohnern erfahren, mit ihnen essen und in ihren Häusern übernachten. Aber wir wurden nicht nur auf unseren Ausflügen grossartig bewirtet, sondern auch an den Arbeitstagen. Für jedes Mittagessen wurden wir eingeladen, entweder vom Arzt oder der Ärztin oder von Patienten. Die Tadschiken nehmen es mit ihren Mittagspausen sehr genau. In den von aussen unscheinbaren, aber im Innern umso schöner gestalteten Häusern durften wir am Mittagstisch Platz nehmen. Das heisst, der ganze Boden ist ausgelegt mit Kissen, in der Mitte stehen alle Esswaren, meistens eine Suppe mit etwas Knochen und Fleisch, ein lokales Fladenbrot in der Grösse von Wagenrädern, das an feuchten Tongefässen über dem Feuer gebacken wird, Gemüse, Linsen, Kichererbsen, dann gab es eine reich gefüllte Fruchtschale….und dann erlebte ich einen regelrechten Schock: In einer ebenso grossen Schale wie jene mit den Früchten lagen Süssigkeiten wie Mars und Milky Way – wir reden hier von hunderten solcher Schokoriegeln – die munter während des Essens herumgereicht wurde. Dementsprechend sehen auch die Gebisse der Menschen dort, vor allem der Kinder, aus… Das Sitzen am Boden im Schneidersitz war für uns gewöhnungsbedürftig, aber wir kriegten Übung mit der Zeit!


Wir waren auf unserer ganzen Reise vom ersten Moment an eingebunden in das Leben der Bevölkerung. Die Arbeit unserer Übersetzerinnen war von unschätzbarem Wert. Ich habe mich nie als Tourist in einem fremden Land gefühlt. Das Wunderbarste dieses Einsatzes war, dass sich mein Horizont in der kurzen Einsatzzeit enorm erweitert hat und ich eine grenzenlos herzliche Gastfreundschaft erleben durfte.


Ausblick
Für zukünftige Einsätze hoffen wir auf eine intensivere Koordination mit den lokalen Gesundheits-behörden, damit die lokalen Ärztinnen und Ärzte unsere Besuche planen und vorbereiten können. Mit den Schweizer Organisationen Swiss Surgical Teams und Swiss Tajik Pediatric Project (STAPP) optimieren wir die Synergien für die Missionen.


Wenn die Batterien fehlen

Ein Bericht von Margot Enz

Nach der nicht ganz einfachen und hindernisreichen Mission im Frühling 2023 wagen es im September 2023 erneut eine Gruppe von 4 Hausärzt*innen, nach Tajikistan, um Mentoring Projekt für Hausärzte fortzusetzen. Für Michael und mich ist es das erste Mal, was uns unbelastet und frei von spezifischen Erwartungen an die Sache herangehen lässt. Jürg und Verena, unsere sehr erfahrene und in jeder Hinsicht kompetente Leiterin, bieten uns dabei eine sichere Basis. Die Prozesse in einem autokratischen Staat gleichen sich, egal in welchem Land man sich befindet. Unzählige «offizielle» Kontakte und Papiere sind notwendig, um die Aufgabe einigermassen unbehindert erfüllen zu können. Kontrollen da und dort, meist von freundlichen Staatsbeamten durchgeführt, strapazieren zwar unser Zeitgefühl bringen aber keine grösseren Hindernisse mit sich. Insgesamt können wir eine deutliche Verbesserung der Organisation unserer Einsätze im Vergleich zum Frühling 2023 feststellen.

Speziell und bereichernd ist der durch das Schweizer Konsulat vermittelte Kontakt zu Dr. Hafiz Mirov, einem Spezialarzt für Magen-Darm-Erkrankungen am Nurafz Medical Center in Duschanbe. Dieser zeigt uns am Ende unserer Mission noch eine ganz andere Seite des tajikischen Gesundheitssystems: eine hoch moderne Medizin, welche mit unseren schweizerischen Verhältnissen gut mithalten kann, leider aber nur für sehr wenige Tajiken erreichbar ist. Hier herrscht eine krasse Zweiklassen-Medizin, wie wir es auch aus anderen va minderentwickelten Ländern kennen.

Immerhin bleibt die Hoffnung, dass diese hochentwickelte Medizin auch als Katalisator für die medizinische Versorgung in abgelegenen Gebieten dienen kann. Dafür aber braucht es dringend eine Anpassung der Prioritätensetzung im Gesundheitswesen. Was nützten Blutzuckermessgeräte, wenn den Hausärzten in der Peripherie die Teststreifen dazu fehlen? oder Sauerstoffmessgeräte ohne Batterien, welche sich die Hausärzte auf Grund ihres schlechten Einkommens kaum leisten können?

Wenn Batterien fehlen

Ein Bericht von Margot Enz

 

Unser Einsatz findet wie im Frühjahr in der Region Kathlon statt, diesmal in der weiteren Umgebung von Kulog. Wir treffen auf teilweise erst vor kurzem neu erstellte oder renovierte Health-Centers, welche gut eingerichtet sind. Daneben aber gibt es auch die kleinen in die Jahre gekommenen Einrichtungen, welche kaum nach den Grundsätzen einer hygienischen und effizienten Hausarztmedizin geführt werden können. Die Hausärzt*innen aber geben ihr Bestes und, was wichtig ist, sie sind für ihre Patient*innen da, 365 Tage im Jahr, Tag und Nacht. Auch hier ist der Hausärztemangel ein riesiges Problem. Während der Pandemie kamen viele an die Grenzen ihrer Kräfte, was immer noch gut spürbar ist.

So erzählt die 46-jährige Hausärztin, Dr. Mirzoe Parvina, Mutter von 5 Kindern, welche 30 Minuten Gravel Road von der Hauptstrasse entfernt in Langar das Health-Center führt, dass ihr die Freude am Beruf seit Corona abhandengekommen sei. Sie habe nur noch funktioniert. Aber sie macht weiter, denn es gibt sonst niemand, der für die kranken Menschen da ist. Fünf Pflegefachfrauen und eine Hebamme unterstützen sie bei der Arbeit. Das kleine Health-Center gleicht einem Taubenschlag: Menschen, jung und alt, Frauen mit Säuglingen, Männer mit von der schweren Arbeit gekrümmten Rücken und Beinen kommen, weil sie sich von der Ärztin Hilfe erhoffen. Es wird aber nicht nur geklagt, sondern auch viel gelacht, berichtet und Naturalien ausgetauscht. Plötzlich steht die 7-jährige Tochter der Hausärztin weinend in unserem Untersuchungszimmer, weil sie nicht in die Schule gehen will. Ein Telefon an eine Nachbarin, die sich der Sache annimmt, bringt die Lösung. Dann ein Anruf für einen Hausbesuch: eine schwer depressive Lehrerin liegt in ihrem dunklen Zimmer, geplagt von Schmerzen und Sorgen aller Art. Da hilft ein aufmunterndes Wort und eine Spritze Papaverin.

Das Mittagessen nehmen wir im Haus der Hebamme ein, welche vorausgegangen ist, um das Essen vorzubereiten. Gestärkt durch eine Schale «Shurbo» mit frischem Brot und ein paar Tomaten geht es auf weitere Hausbesuche. Um 15 Uhr findet im Zentrum von Muminobod dann das Meeting mit den Hausärzten der Region statt. Mirzoe Parvina kann NICHT mitkommen – sie hat kein Auto und kommt daher nicht mehr nach Hause.

Diese Begegnungen mit den kranken Menschen ihren Angehörigen und der unermüdliche und selbstlose Einsatz der Hausärzte sind es, welche mich am meisten berührt haben.  Neben unserem Hauptauftrag des «hausärztlichen Mentorings», sind es wohl diese unmittelbaren Kontakte, die den Hausärzten Hoffnung für die weitere Zukunft, Stärkung des Selbstwertes und Anerkennung für ihre Arbeit geben, welche unser Engagement so wertvoll machen. Natürlich spielen auch die Qualitätsverbesserung der hausärztlichen Arbeit und die Rückmeldungen über die Bedürfnisse und notwendige Unterstützung an die zuständigen Stellen eine wichtige Rolle.


Erfahrungsbericht 2022

Junge Ärztinnen im Rasht-valley

 

Anmerkung: Das Portrait beschreibt die Tätigkeit zweier Ärztinnen. Die nachfolgenden Aussagen bezüglich Arbeitsbedingungen betreffen genauso die Situation von männlichen Kollegen.

Vor zwei Jahren hat Alimordova Zerbonico den Retraining-Kurs zur Hausärztin abgeschlossen, nachdem sie sich vorher bereits 2005 als Grundversorgerin spezialisiert hat.  Heute arbeitet sie in der kleinen, öffentlichen Poliklinik der Ortschaft Obi Gharm, welche sich in einem abgelegenen Tal Tadschikistans befindet. Der Weg in die nächstgrössere Ortschaft Vahdat oder die Hauptstadt Dushanbe ist lang und die Strassen sind zum Teil wegen der Bauarbeiten für den grossen Staudamm bei Roghun in einem sehr schlechten Zustand.

Das kleine Sprechzimmer in der Poliklinik ist einfach, aber hell und freundlich eingerichtet. Alimordova ist Ärztin aus Leidenschaft. Sie versorgt vorwiegend Patienten mit Diabetes, da sie sich für diese Krankheit spezielle Kenntnisse angeeignet hat. Sie kennt alle ihre Patienten sehr gut, weiss Bescheid über deren Eigenheiten, die Familienverhältnisse, die letzten Blutzuckerwerte und die verordneten Medikamente. So hat sie einen äusserst guten Zugang zu ihnen. Alimordnova macht in der schwierigen Situation mit begrenzten Mitteln das Beste aus der Situation und versorgt und berät ihre Patienten einfühlsam und gut im Wissen, dass nicht alle ihre Empfehlungen und Ratschläge umgesetzt werden. Sie bezeichnet ihre Patienten als ihre Familie, welche sie auf keinen Fall für eine bessere Anstellung oder bessere Bezahlung im Ausland im Stich lassen möchte. Ich bin beeindruckt, wie sorgfältig sie die Patienten untersucht und wie konsequent sie trotz fehlender Wasserversorgung die Hygieneregeln einhält.

 

Dilafruz Kamolova ist eine engagierte Hausärztin aus Navdi, einer kleinen Ortschaft ausserhalb von Gharm.  Sie hat vor drei Jahren ihren Retraining-Kurs absolviert. Vorher hat sie als Frauenärztin gearbeitet. Diese fachärztliche Tätigkeit betreibt sie neben der Arbeit als Hausärztin weiter, was von vielen tadschikischen Frauen sehr geschätzt wird. Auch ihr Sprechzimmer ist hell und sauber. Meistens hat sie ein Lächeln auf dem Gesicht  und sie macht gelegentlich auch einen Scherz, welchen die Patientinnen in ihren oft schwierigen Lebenssituationen gerne entgegennehmen und zufrieden die Sprechstunde verlassen.

 

Der Wunsch weiter zu lernen

Doch auch Alimordova und Dilafruz haben in ihrer Ausbildung viele Lücken. Grundlegende Fähigkeiten wurden in ihrem Training nur oberflächlich gelehrt. Sie sind äusserst interessiert und begierig von Mentor*innen zu lernen. Wir üben gemeinsam die Untersuchung von Gelenken, Muskulatur und des Rückens, von Bauch und Nervensystems. Gleichzeitig instruieren wir Übungen für die häufigsten Beschwerden des Bewegungsapparates.

Beide Frauen müssen neben der Arbeit in ihrem kleinen medizinischen Zentrum auch den Einkauf für die Familie, die Betreuung ihrer Kinder und die Hausarbeit erledigen. Oft sind zusätzlich ein kleinerer oder grösserer Gemüse- und Obstgarten und ein paar Haustiere wie Ziegen und Hühner zu besorgen. Tadschikische Ärztinnen sind schlecht entlöhnt und können von ihrem Gehalt nicht leben, sodass die Familie auf einen Zusatzverdienst und die möglichst vollständige Selbstversorgung mit Lebensmitteln angewiesen ist.

Wir sind erstaunt, wie sich die Hygiene in der Zeit seit unserer letzten Mission verbessert hat. Mutmasslich hat hier die Corona-Pandemie ihre Spuren hinterlassen und das medizinische Personal zur Einhaltung der Hygienevorschriften motiviert. Händedesinfektionsmittel sind regelmässig im Einsatz.  Leider sind viele Wasserbehälter zum Waschen der Hände nicht im Zimmer integriert und immer noch zu oft schlecht zugänglich.                                                                                  

Team Mission Frühjahr 2022

René Kuhn, Giovanna Kissner, Verena Gantner (von rechts), danach die Übersetzerinnen Oluchamo, Sohibjamol, Muslima und unser tadschikischer family medicine coordinator Dilovarsho.


Erfahrungsbericht 2019

Eine wundersame «Auferstehung»

Die Teilnehmer unserer Herbstmission vom 8.-28.9.2019 sind wiederum 4 erfahrene Hausärzte: Dorothee Alioth, Mathis Trepp, Sven Michelsen und Verena Gantner.

Wir haben während 2 Wochen im Süden von Tadschikistan, in Vose gearbeitet.

Mathis Trepp arbeitet einige Tage in Guliston, wo er mit seiner tadschikischen Kollegin auch Hausbesuche macht.

Bei einem Hausbesuch wird ein 10- jähriger Knabe flachliegend hereingetragen. Er hat vor 5 Monaten eine TBC Meningitis erlitten. Die medikamentöse Therapie erscheint adäquat, sie wird zentral überwacht. Der „Neuropathologe“ hat dem kleinen Patienten strikte Bettruhe verordnet, d.h. er soll 6 Monate flach liegen bleiben!! (à angeblich wegen Hirndruckprophylaxe!) Der Lehrer bringt ab und zu Schulaufgaben zum Knaben nach Hause. Die Ärztin des Gesundheitszentrums hat bereits schon vor 2 Monaten empfohlen, dass der Knabe aufstehen solle. Darauf sind offensichtlich lange Diskussionen mit der Mutter und Familienangehörigen erfolgt, ohne sie überzeugen zu können, dass die Bettruhe widersinnig sei. Mathis Trepp schlägt vor, noch eine Drittmeinung einzuholen, da anscheinend auch ihm – der die Meinung der Ärztin des Gesundheitszentrums unterstützt – niemand zu glauben scheint.

Plötzlich taucht der Vater auf, der nach kurzer Diskussion unerwarteterweise bereit ist, den Versuch zu wagen und den Knaben zu mobilisieren. Kissen werden gebracht, um das Kind in eine sitzende Position zu bringen. Dann stellen wir den Knaben zusammen mit dem Vater auf die Füsse und drehen zu Fuss, ihn anfänglich noch stützend, einige Runden in der Stube. Der Knabe strahlt übers ganze Gesicht und alle sind glücklich. Er kann aufstehen und gehen!

Natürlich wird danach sofort eine Unmenge Essen gebracht zur Feier dieser «Auferstehung».

                                                                                                                                

Eine neue Generation weckt Hoffnung

Vor anderthalb Jahren hat Natija die zweijährige Weiterbildung zur Hausärztin abgeschlossen (Zur Erinnerung: Die Weiterbildung für Spezialisten dauert in Tadjikistan nur 1 Jahr). Heute arbeitet sie in einer öffentlichen Poliklinik in einer städtisch geprägten Region.

In einem heruntergekommenen Haus aus der Sovjetzeit teilt sie mit ihrer Kollegin in ein kleines Sprechzimmer. Es ist eine Freude mit ihr zu arbeiten. Obwohl Privatsphäre unter diesen Bedingungen fast nicht möglich ist, hat sie einen guten Zugang zu den Patienten. Probleme wie der unnötige Einsatz von Antibiotika oder der kritiklose Glaube an unzuverlässige Ultraschallbefunde, die bei der Arbeit mit Ihren älteren Kollegen im Vordergrund standen, sind für sie kein Thema mehr. Ich bin beeindruckt, wie sorgfältig sie Patienten untersucht und wie konsequent sie trotz fehlender Wasserversorgung die Hygieneregeln einhält.

weiter .....

von Dr. Urs Willimann

Erfahrungsbericht Herbst 2018 - Dorothee Alioth

Ein Tag in der Sprechstunde «meines» Arztes

Bereits gestern war ich bei diesem Arzt und werde morgen nochmals mit ihm zusammen in der Sprechstunde arbeiten.

Bei meiner Ankunft im kleinen lokalen Gesundheitszentrum sitzt im Korridor bereits das halbe Dorf. Die Männer zwischen 20 und 40 Jahren fehlen. Sie sind in Russland, arbeiten dort als Gastarbeiter und verdienen den nötigen Zustupf, damit die Familie zuhause überleben kann. Die Bevölkerung kann ohne das erwartete Geld ihrer Gastarbeiter in Russland nicht auskommen. Die Bedürfnisse sind auch hier in Tadschikistan gross und werden durch Werbung von Ost und West unterhalten. So möchte jede Familie Auto, Fernseher, Natel und alles, was gesund und schön machen könnte, besonders Antibiotica und Sedativa. Die meisten Medikamente kann man ohne Verschreibung in der Apotheke erhalten, deshalb hat auch jeder ganze Säcke davon. Diese Entwicklung hat viele Nebenwirkungen. Diese anzusprechen und Vieles aufzuräumen ist für den Hausarzt schwierig. Er muss oft auch die Arbeit und Empfehlungen der Spezialisten hinterfragen. Das hat er nicht gelernt und ich muss ihm Mut machen, es zu tun. Der wichtige Grundsatz «primum nihil nocere» soll umgesetzt werden.

An diesem Morgen kommen Mütter oder Grossmütter mit Kindern, die vom Neuropathologen die Diagnose «Hirndruck» erhalten haben und daraufhin über Monate derart sediert wurden, dass sie in der Entwicklung retardiert sind. Zwei Patienten stellen sich vor, welchen wegen Nierensteine eine Niere entfernt wurde und welche jetzt mit einer Niere und einer unschönen Narbe nach der grossen Operation leben müssen.

Irrglauben sind weit verbreitet. Ein 7-jähriger Junge mit dichtem, struppigem Haar soll an Würmern erkrankt sein. Die Diagnose stellen die Angehörigen aufgrund des Aussehens. Das Kausalitätsbedürfnis ist gross. Die Rückenschmerzen der schwer in Haushalt, Garten und zusätzlich als Pflegerin im Spital arbeitenden 45-jährigen Frau sollen von der Niere herrühren, weil sie kaltes Wasser getrunken hat. Bei der klinischen Untersuchung bestätigt sich die Vermutung überlastungsbedingter Rückenschmerzen. Die Frauen schleppen neben der übrigen Arbeit Wasser nach Hause – meist 20 Liter auf jeder Seite. Fliessendes Wasser gibt’s in den wenigsten Haushalten. Wer über eine eigene Quelle vor dem Haus verfügt, kann sich glücklich schätzen. Die Pflegerin versteht zwar jetzt, dass ihre Rückenschmerzen nicht mit Antibiotica zu kurieren sind, aber ihr Alltag wird sich wenig ändern.
            

Das Mittagessen um 13 Uhr nehme ich mit dem Arzt und dem Personal im Praxiszimmer ein. Es bleibt etwas Zeit für Fragen und Diskussion. Unser Übersetzer und der Fahrer sind auch dabei.

Am Nachmittag sind Hausbesuche angesagt. Mein Arzt stellt mir seine schwierigen Patienten vor und erwartet von mir einen Vorschlag zur Therapie. Wir besuchen einige Patienten, welche an Geburtsschäden leiden, gelähmt sind und zuhause von der Familie gepflegt werden. Die Erwartung der Angehörigen an die ausländische Ärztin ist gross. Aber natürlich ist in diesen Situationen eine Heilung nicht möglich. Wir können lediglich Inputs zur einfacheren Bewältigung der täglichen Pflege oder bsseren Lagerung geben. Trotzdem sind die Familien dankbar, dass man sich ihrer Probleme angenommen und ihre Sorgen angehört hat.

Ich bewundere und respektiere meinen tadschikischen Arztkollegen sehr, welcher sich trotz häufig widerwärtiger lokaler Umstände regelmässig um seine Patienten und deren Familien kümmert, ihre Hilflosigkeit mit Empathie mitträgt und Beistand gewährt. 

Dorothee Alioth

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